Über die allmähliche Verfertigung einer Doktorarbeit im Beruf: Helene Tello

Die Diplom-Restauratorin (FH) Helene Tello lernte ich 2013 während einer Schreibwoche für Promovierende kennen, die ich gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Sven Arnold begleitete.

Helene fand in jener Woche mit einer anderen Doktorandin in einem Tandem zusammen. Beide schrieben nebenberuflich an ihren Dissertationen zu Themen aus ihrer Berufspraxis im Museum sowie in der Denkmalpflege. Helene forschte über die Schädlingsbekämpfung durch chemische Wirkstoffe und Mittel in Museen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sowie deren Auswirkungen auf die Konservierung von Museumsobjekten in der heutigen Restaurierungspraxis.

Nach der Schreibwoche trafen sich die Tandempartnerinnen regelmäßig zu Schreibwochenenden auf halber Strecke zwischen ihren Wohnorten. Sie unterstützten sich gegenseitig, was auch nötig war, da sie wegen ihrer Berufslaufbahn aus der Norm des „jungen, männlichen, mobilen Doktoranden“ fielen, auf die sich das Promotionswesen in Deutschland leider immer noch gründet. Helene nutzte auch Angebote des [schreibzentrum.berlin]. So blieb ich über ihr Projekt bis zum erfolgreichen Abschluss 2020 auf dem Laufenden.

Ich bewundere Helenes Hartnäckigkeit und Disziplin, über viele Jahre am Ball geblieben zu sein. Wie hat sie das geschafft? Ich habe sie dazu interviewt. Ihre Geschichte ist die Geschichte einer Quereinsteigerin. Und sie ist für mich ein schönes Beispiel dafür, dass Promotionen oft unausgesprochen dem Skript der Held.innenreise folgen:

Der Ruf des Abenteuers und die Weigerung der Heldin: „Ich habe mir das nicht zugetraut.“

Wenn Helene auf ihren Bildungsweg zurückblickt, kommt ihr der belesene Vater in den Sinn. Der ehemalige Marineoffizier hatte nach dem Zweiten Weltkrieg das begonnene Studium zum Schiffsmaschinenbau in allgemeinen Maschinenbau gewandelt. In den Wiederaufbau-Jahren gab er seinen Wunsch nach einer Promotion zu Gunsten der Familie auf. Dafür umgab er sich im Laufe seines Lebens mit Tausenden von Büchern. Und es kommt Helene die hochbegabte nächstältere Schwester in den Sinn, die eine Klasse übersprang und danach das beste Abitur des Jahrgangs ablegte. Sie selbst – so sagt Helene heute – fühlte sich in dieser Familienkonstellation eher zum Praktischen hingezogen. Obwohl sie gerne zur Schule gegangen sei, habe sie sich ein Studium nicht zugetraut. Sie absolvierte stattdessen eine Tischlerlehre und machte sich selbstständig. Nebenbei bildete sie sich weiter zur Sachverständigen für Möbel aus. Das wurde ihr Einstieg zur stellvertretenden Werkstattleiterin in einem hessischen Museum; 1998 wechselte sie als Holz-Restauratorin an ein großes Museum in Berlin.

Begegnung mit dem Mentor: „Doch! Sie können das!“

Mit diesem Ortswechsel fand Helene unverhofft ihren Mentor oder der Mentor fand sie: Ein Chemiker der Staatlichen Museen zu Berlin weckte ihre Neugier für das Thema hochkontaminierter Museumsobjekte. Es scheint, als sei er selbst ein talentierter Talent-Scout gewesen. Er bezog Helene in ein Forschungsprojekt über die Dekontamination von Kunst- und Kulturgut ein, das einst mit Bioziden behandelt worden war. So wurde sie in das wissenschaftliche Arbeiten eingeführt und ermutigt, ihre Dekontaminationsversuche an ethnologischen Objekten und Materialien zum Gegenstand ihrer Diplomarbeit zu machen. Ihr Mentor ermunterte sie außerdem, diese Arbeit auf Englisch zu verfassen. Obwohl Helene das Schreiben der Diplomarbeit als krisenhaft erlebte, ließ er ihre Einwände nicht gelten: „Doch! Sie können das!“, trieb er sie an. Und sie schaffte es: 2006 legte sie an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin ihr externes Diplom in Restaurierung mit dem Thema: “Investigations on Super Fluid Extraction (SFE) with Carbon Dioxide on Ethnological Materials and Objects Contaminated with Pesticides” ab.

Die Idee zur Promotion ergab sich aus dieser langjährigen Zusammenarbeit. Im Rahmen eines Drittmittelprojektes war für Helene eine Stelle mit der Möglichkeit zur Promotion vorgesehen. Das Projekt kam zwar nicht zustande, aber das Thema einer möglichen Dekontamination von Museumsobjekten hatte sie gepackt. Vor allem interessierte sie die Frage des historischen Einsatzes und der Analytik von Bioziden in musealen Sammlungen. Was machten die Giftstoffe mit den Materialien und mit den Museumsmitarbeiter.innen? Um diese Fragen beantworten zu können, war überhaupt erst einmal zu klären, wie und in welchen Dosen die unterschiedlichen Wirkstoffe und Mittel in die Materialien gekommen waren.

Aufbruch in das Land der Wunder: „Das war für mich das Allergrößte!“

Der erste Schritt in die Forschung bestand für Helene darin, eine überlieferte Altakte mit Dokumenten und Einträgen in Sütterlin in akribischer monatelanger Arbeit zu entziffern. Ihr Interesse war geweckt.

Titelblatt der Akte I MV 0075. Foto: Helene Tello

Sie bemühte sich um die Zulassung zur Promotion, aber mit einem FH-Diplom eine kooperationsbereite Universität zu finden, ist noch heute nicht einfach. Im Jahr 2010 erhielt Helene von der Europa-Universität Viadrina die Zusage. So unverhofft und überwältigend kam diese Nachricht, dass ihr der Moment in Erinnerung blieb: Sie betreute damals die Objekte einer Sonderausstellung über „Vodou – Kunst und Kult aus Haiti“. Das klingt für mich fast bildhaft wie der Aufbruch in neue Welten.

Helene begann, in Archiven zu recherchieren und ihre Expertise aufzubauen. Sie reduzierte ihre Arbeitszeit; der Freitag wurde ihr „Archivtag“. Am liebsten hielt sie sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem auf: „Das war für mich das Allergrößte!“

Die Familie kannte Helene „jahrelang nur mit dem Schleppi unterm Arm“; selbst im Urlaub schrieb sie morgens von 6:00-8:00 Uhr. Als Mutter, Partnerin und später als Großmutter hatte sie über die Jahre ihre Strategien entwickelt, um diszipliniert am Ball zu bleiben. Die Herausforderungen lagen für sie eher im beruflichen Umfeld. Helene galt intern bald als „Giftfrau“, die ihre Erkenntnisse auf Vorträgen auch im Ausland vorstellte. Sie selbst empfand die Museumswelt zunehmend als ,toxisch‘. Auf jeden Fall beforschte sie eine Geschichte, die in deutschen Museen bislang unbekannt ist: Eine der treibenden Kräfte für den Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln in musealen Sammlungen war um 1900 die aufstrebende chemische Industrie. Nach dem Giftgas-Einsatz auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs erschloss sie sich in Museen offenbar neue Absatzmärkte.

Wenn es einen ,Dämon‘ gab, den Helene auf ihrer Reise zu ,bezwingen‘ hatte, war es das hierarchische Denken und zögerliche Handeln im öffentlichen Dienst. Sie empfand es zunehmend als hemmend und suchte in Quellen sowie in der Fachliteratur nach Erklärungen. Am Ende verstand sie die Muster und Strukturen staatlichen Verwaltungshandelns in Museen gegenüber Veränderungsprozessen, ihren eingeschlossen.

Rückkehr mit dem Schatz: „Ein tolles Gefühl!“

Helene nach bestandener Disputation. Foto: Thomas Kupferstein

Der Abschluss zog sich bis in den April 2020. Im Juli 2020, mitten in der ersten Corona-Welle, bestritt Helene schließlich erfolgreich ihre Disputation und beendete fast zeitgleich ihren Dienst als Restauratorin im Museum.

Inzwischen genießt sie befreit, wie sie sagt, ihr „letztes Stück Berufsleben“ und bereitet ihre Doktorarbeit für die Veröffentlichung vor. Sie ist angekommen mit ihrem ,Schatz‘: Die Erkenntnisse ihrer langjährigen Forschungsarbeit werden bald in einem Buch sichtbar sein. Dieser Abschluss ist für sie „ein tolles Gefühl.“ Ich freue mich mit ihr und, dass ich sie auf ihrem Weg ein Stück begleiten durfte.

Mehr zum Forschungsthema auf der Webseite von Helene Tello. 

Daniela Liebscher