Frage: Wenn ich ein neues Kapitel meiner Dissertation beginne, erscheint es mir jedes Mal so an, als müsste ich das Schreiben komplett neu lernen. Inhaltlich bin ich vorbereitet, aber ins Schreiben selbst komme ich nur schwer rein. Wie überwinde ich dieses lähmende Gefühl?
Antwort: Der Eindruck, bei jedem neuen Kapitel oder Schreibabschnitt wieder ganz von vorne anfangen zu müssen, ist unter Promovierenden weit verbreitet. Wie Sie es beschreiben, liegt diesem Gefühl häufig weniger ein Mangel an inhaltlichem Wissen zugrunde – die inhaltlichen Grundlagen sind zumeist längst vorhanden –, als vielmehr ein Mangel an Vertrauen in die eigene Schreibkompetenz.
Ein solches Empfinden von Unsicherheit kann eine Hürde sein, um das inhaltliche Wissen selbstbewusst aufs Papier zu bringen (oder digital zu verarbeiten). Allerdings ist diese weniger hoch, als Sie vielleicht befürchten. Denn oft fehlt schlicht eine verlässliche Schreibroutine, eine stabile Verlässlichkeit in den eigenen Schreibprozess und das Sichtbarsein der bereits gemachten Fortschritte bei Ihrer Dissertation. Und daran können Sie leicht etwas ändern. So kann es gehen:
1. Etablieren Sie Ihren persönlichen Arbeitsprozess
Starten Sie mit dem Schreiben immer erst dann, wenn ein konkretes Kapitel oder ein bestimmter Abschnitt ansteht? Dann wird Schreiben schnell zu einer einzelnen Aufgabe, die Sie jedes Mal neu bewältigen müssen, statt zu einem kontinuierlichen, fließenden Prozess.
Was hilft:
– Schreiben Sie jeden Tag an Ihrer Dissertation – und wenn es nur 15 Minuten sind. Es gibt auch kleine Arbeitseinheiten in der der Promotion, wie eine Recherche oder einen Satz / Absatz überarbeiten. Durch regelmäßiges Schreiben verhindern Sie, dass Sie jeden Schreibanlauf als isoliertes Ereignis erleben.
– Etablieren Sie eine wiederholbare Schreibroutine. Zum Beispiel so:
1. Freewriting (10 Minuten) – Zum Einstieg in das nächste Kapitel einfach drauflosschreiben, ohne Anspruch auf Struktur oder Qualität – ganz ohne Druck.
2. Struktur-Skizze (15 – 30 Minuten) – Die grobe Gliederung oder zentrale Punkte des geplanten Textabschnitts skizzieren. Was soll rein? In welcher Reihenfolge? So entsteht ein erster roter Faden.
3. Schreibsprint (25 Minuten) – Jetzt geht es nur ums Schreiben entlang ihrer Struktur-Skizze: konzentriert, ohne Unterbrechungen, ohne über Stil oder Perfektion nachzudenken. Ziel ist es, einen ersten Rohtext zu produzieren.
4. Rückblick (5 Minuten) – Kurz reflektieren: Was ist an Text entstanden? Was funktioniert gut, wo hakt es noch? Den nächsten kleinen Schritt notieren – so gelingt der Anschluss leichter.
2. Reframing: Geschriebenes muss nicht gleich gut, es muss erstmal nur da sein
Fühlt sich der Anfang wie ein Neuanfang an, weil Sie den Anspruch haben, gleich guten Text schreiben zu müssen?
Was hilft: Schreiben Sie zuerst eine ,schlechte‘ Rohfassung. Nennen Sie sie ruhig ,Müllversion‘, ,Krümel‘ oder ,Baustelle‘. Sobald etwas auf dem Papier steht, ist der Bann gebrochen. Das Überarbeiten kommt später.
3. Schreiben als Weiterbauen statt Neubeginn verstehen
Der Gedanke vor dem Schreiben eines neuen Kapitels „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll“ lässt Sie womöglich unterschätzen, wie viel Sie können bzw. wie viel Textmaterial Sie schon erarbeitet haben. Häufig existieren bereits Abstracts, Notizen oder andere Rohfassungen, auf die Sie zurückgreifen könnten.
Was hilft: Bauen Sie ein Schreibarchiv auf. Legen Sie sich dazu einen Ordner an mit:
– Vorherigen Kapitelanfängen
– Typischen und hilfreichen Formulierungen (zum Beispiel Übergänge, Hypothesenformeln, Einleitungen)
– Satzbausteinen / Phrasen, die immer wieder passen
So nutzen Sie bestehendes Material als Ausgangspunkt.
Fazit
Das Gefühl „bei Null anzufangen“ entsteht meist nicht durch mangelndes Wissen, sondern durch fehlende Schreibroutine und Selbstsicherheit im Schreibprozess. Wenn Sie Ihr Schreiben systematisieren, Entspannung hineinbringen und Ihre vorhandenen Texte als Ressource nutzen, wird der Einstieg leichter – und fühlt sich nicht mehr wie ein Sprung ins kalte Wasser an.
Herzlich grüßt aus dem Schreibzentrum
Ihre Dr. Gudrun Thielking-Wagner